Ein Nachbericht zur interaktiven Installation „Intermediale künstlerisch-philosophische Annäherungen an Daseinsformen in der Zeit der Großen Transformation“ der Künstlerin Adrienne Györgyi im Karnitz Garden vom 3.-6. Oktober 2019.
„Ohne Optimismus und ohne Pessimismus, wie Voltaire vorgeschlagen hat, soll man seinen Garten kultivieren. Das Wort vom Kultivieren des Gartens meint nicht den Untergang sozial-historischer Einbildungskraft, sondern die Übernahme von Verantwortung für soziale Fantasien.“
Mit diesem Motto der Philosophin Ágnes Heller lud die begehbare Installation mit Mitteln u.a. der visuellen Poesie im Karnitz Garden zum interagieren ein. Der Aufruf der Künstlerin lautete: Nehmen Sie alle Ihre Sinne zusammen um Teil Ihrer Interpretation und zum Gestalter zu werden.
Das Plakat am Gartentor: Tu nichts! Lass der Mitwelt eine Chance sich von Dir zu erholen.
Weg mit den Beschäftigungen, werde tätig! „Niemals ist man tätiger, als wenn man dem äußeren Anschein nach nichts tut…“ (Cato bei Hannah Arendt)
Lao-tse sagt: Tue das Nicht-Tun. Schaffe ohne Geschäftigkeit. – Wobei das Nicht-Tun kein passiven Nichtstun ist, viel mehr ist es eine wertvolle und wirkungsreiche Geistesverfassung, aus der jede Aktion zu jeder Zeit möglich ist.
Die Litfaßsäule. Eine Fackel.
Ein Mahnmal, wie unser Konsumverhalten die Klimaerwärmung bewirkt hat wurde als Teil der Ausstellung Tun und Lassen auf der Schafweide aufgestellt. Der übermannshohe Barcode füllt die ganze Fläche der Litfaßsäule, die 12 Zahlen 188119492017 stehen für drei Jahreszahlen. In der Mitte ist 1949, das Jahr des Grundgesetzes und der Gründung der BRD und der DDR, der NATO, des Europarates, des Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe…
Die Streifen zeigen die Temperaturentwicklung in Deutschland seit Beginn der Aufzeichnungen des Deutschen Wetterdienstes vor 139 Jahren, wobei die 20 wärmste Jahre auf die letzten 29 Jahre fallen. (Quelle: https://showyourstripes.info/ und https://wetterkanal.kachelmannwetter.com/temperaturentwicklung-in-deutschland-seit-1881/)
Die erst vorwiegend blauen und rosa Striche werden immer mehr von roten abgelöst, und dann greift die rote Farbe auf die Krone über, und mit der flammenförmigen Verzierung wird die Säule zu einer Fackel. Die Häufung der wärmsten Jahre im 21 Jahrhundert zeigt: „Die Erwärmung ist ungebremst, der Klimawandel hat Deutschland im Griff“ (Paul Becker, DWD-Vizepräsident). Eine Litfaßsäule ist ein Stadtmöbel und trägt vor allem Plakate für Konsumgüter. So ist es auch der perfekte Medium zu zeigen, wie – als Folge des ungehemmten Konsumwirtschaft – sie sich förmlich selbst entzündet und lichterloh brennt.
Die Ausstellung in weiteren fünf – zum Kunsträumen umfunktionierten – Bauwagen aufgebaut.
Unterm Nussbaum: Sprechen Sie Klimakrise? Die Macht der Zauberwörter.
An unserem Horizont erscheint eine Welt, die anders ist als unsere bekannte. Wir wissen noch
nicht, wo wir in zehn oder dreißig Jahren sind, und balancieren in einem unbekannten Gebiet. Zum Handeln im Jetzt mit einer Vision für die Zukunft bedürfen wir einer neuen Sprache. Es entstehen neue Wörter, mit der wir die Situation erkennen, Beobachtungen beschreiben und unsere Handlungsmöglichkeiten benennen können.
Die begehbare Installation bildet in dem Raum ein Balken, wackelig auf Backsteine gelegt, auf dem Boden abgestorbene Baumstämme, an den Wänden auf Augenhöhe eine scheinbar endlose Schleife aus Wörtern, die bei den Diskussionen über die Klimakrise in den Medien zu hören und zu lesen sind. … Rebellionsnotwendigkeit … Inkompetenzkompensationskompetenz … Bedürfniserzeugungsindustrie … Weltreichweitevergrößerung … Zirkulardenken … Konsumgüterkaufverzicht … Regenerationsstatus … Kipppunkte … Demystifizierungsprozess …
Hyperraumumgehungsstraße …
Beim Betreten und beim Bewegen auf dem Balken fühlt man sich unsicher, es ist kippelig, und die Begriffe an den Wänden verstärken diese Wirkung. Sind mehrere im Raum, kommen Enge und Schwindel hinzu, dann ist im Tumult der Kipppunkt erreicht und man fällt.
In blauem Wagen: Was trägst Du auf dem Herzen?
Mit Markenzeichen auf Kleidern ist man selber die Werbung. Der Konsument erzeugt das Bild der Marke und verkauft das Produkt. Ein magischer Produktions- und Konsumverein. Doch jeder entscheidet selber, wofür er im Alltag wirbt. Motto der Installation: Lasse Raum für deine eigenen Gedanken, formuliere deine Ideale und bringe sie in die Mitwelt ein!
Am und vom Kummerower See inspirierte Botschaften sind hier auf frische Wäsche gedruckt. Im Raum sind Leinen gespannt und darauf 12 T-Shirts mit Wäscheklammer aufgehängt, von denen die Besucher sich welche abnehmen und anprobieren können, um sich im Spiegel zu betrachten oder/ und mit den anderen über ihre Wahl ins Gespräch zu kommen.
Schau in den Spiegel! – Suffizienz. Würdevoll, aktiv, lebendig im Anthropozän. Wir sind die eigentlichen Produkte der Bedürfniserzeugungsindustrie – wie Harald Welzer so passend formulierte. Wollen wir das? Die bewusst provokativ im Spiegel lesbaren Texte sollen Nachfragen und Diskussionen über das eigene Konsumverhalten auslösen: Ändere den Kurs!
See! ist hier auch erblicken, verstehen und dann – handeln. Im Großem wie im Kleinem, wie eine Segeltour mit den ihr innewohnenden Handlungsregeln Assoziationen zum Handeln auf planetarer Ebene weckt. Signalflagge blaues Kreuz auf Weiß: Unterbrechen sie ihr Manöver und achten sie auf die Signale!
Angekommen im Anthropozän. Resilienz. Statt Risikominderung nur noch Risikomanagement? Ist Nachhaltigkeit und damit Ursachen und Risiken zu mindern nicht doch wichtiger? Wollen wir die von uns eingeleiteten Zerstörungsprozesse als unvermeidbar akzeptieren? Wo liegt die Grenze des menschlichen Daseins? Sind wir anpassungsfähig genug?! Wasserläufer. Wie halten Sie sich über Wasser?
In rotem Wagen: Erde bebt – Leben regt. Visuelle Poesie.
Zwischen vertikaler und horizontaler Linie entsteht im Überschneidungspunkt Unsichtbares, Unerwartetes, Neues. Eigene und andere ausgewählte zu Bildern gestaltete Texte deuten das Wunder des Neuanfangs, das Drehen der Weltachse, das Verbundensein an. Ein zum Teppich gewebter Text ist Refrain eines Navajo-Gebets das beim Weben gesungen wird und Harmonie und Ordnung verweben die Beziehungen menschlicher und nicht-menschlicher Wesen.
An der Gartengrenze, Wagen1: Raum der Farben. Gedichte zum Entfalten.
Die Sieben Farbbilder zum Entwickeln sind kurze Texte, entstanden in besonderen farbigen Augenblicken in der Natur. Sie fordern den Leser auf, sie zu entfalten. Dabei entstehen neue Facetten eines inneren Bildes, das auf magische Weise die Weite von innen und außen erleben lässt.
An der Gartengrenze, Wagen2: Meditationsraum mit Siebdruckbildern.
Losgelöst. Kamelienblüten mit Siebdruck auf Leinen. Auf den zweiten Blick werden beim Betrachten der Wandbilder die Blüten abwechselnd fallend und sich hebend wahrgenommen und assoziieren Schmetterlinge. Die einfachblütige Art der Camellia japonica, die in Japan Sinnbild für Tod und Vergänglichkeit ist, symbolisiert auch Eleganz, Harmonie und Freundschaft. Und, wie ich es später einem Hokku beigefügten Kommentar lesen konnte, wird hier eine Formulierung aus der zen-buddhistischen Tradition aufgegriffen und weitergesponnen: „Schwebt da eine abgefallene/Blüte an den Ast zurück?/… Ach, ein Schmetterling!“ (Arakida Moritake, 15. Jh.)
(c) aller Fotos: Adrienne Györgyi