Differenzierung und Diversität in meinem praktischen Kunstschaffen

Differenzierung

In Atelier arbeite ich derzeit mit vielen Phasen intensiven Betrachtens und wenigen tatsächlichen mikroskopischen Eingriffen an dem fast fertigen Großformat „Gardening in Homs“.1

Mein kleinteiliges fertigstellendes Arbeiten ist ein Formvollenden, lässt sich mit Differenzieren hin zu einer stabilen, als Ganzheit viel früher angelegten Bildlichkeit beschreiben. Einen Bereich aktueller Differenzierung aus „Gardening in Homs“ zeigt dieses Detailfoto.2 Für mich als Künstler eine wunderbare Phase der Arbeit, ein langsames Arbeiten mit viel Zeit, Ruhe, vielen Pausen – auch schon mit dem Abschweifen, Planen, der Entwicklung neuer Ungeduld für die nächsten Projekte.

In manchem kommt Luhmanns Vorstellung von Kunst-Schaffen meiner persönlichen Erfahrung nahe: „Nach dem Zufall des Anfanges übernimmt das Werk die Kontrolle über seine Produktion und reduziert den Künstler auf einen Beobachter, der mit allmählich abnehmenden Freiheitsgraden arbeiten muss.“3 Das ist drastisch und womöglich abwertend formuliert, ich persönlich zweifle natürlich das Verständnis vom Künstler als „Maschine zur Erzeugung von Zufällen“4 an und sehe die Rolle des Beobachters in der differenzierenden Werkphase als eine Erweiterung, einen Gewinn persönlicher Freiheit: von müssen kann keine Rede sein. Die Kunst-Produktionsbeschreibung mit der ersten Setzung jedoch, den daran anschließenden Setzungen weiterer Unterscheidungen mit abnehmenden Freiheitsgraden und dem letztendlichen Akzeptieren/Verwerfen des Werkes übernehme ich gerne, sie beweist ihre Fruchtbarkeit im eigenen Arbeiten und im Unterrichten.

Woher kommt das Gefühl von Großartigkeit und Freiheit, das der Theoretiker mir, dem Maler, nicht recht zugestehen will: Die persönliche Intervention die im Akzeptieren oder Verwerfen des fertigen Werkes bei Luhmann anklingt ist natürlich im gesamten Arbeitsprozess präsent. Luhmann hätte dabei gern ein binären Code, der nur das eine oder andere zulässt: ein zerstörtes oder fertiges Werk. Praktisch jedoch bringen – temporär verstandene – Zerstörungsprozesse ein Werk oft schnell und überzeugend voran5 und nicht immer löst Akzeptieren alle künstlerischen Probleme, die ein Werk mitführt.

Diversifizierung

Eine künstlerische Möglichkeit, die sowohl Akzeptieren als auch Verwerfen mitführt, ist die Einführung neuer Differenzierungsherde, die dem bisherigen Bildaufbau widersprechen oder ihn neu bestätigen können, das Ganze jedenfalls weiterentwickeln.6 Das Werk wird vielgestaltiger; vielleicht nur für einen Teil des weiteren Weges. Diese Diversifizierung hebt Stagnation auf, die oft und besonders in frühen Werkstadien gerade dann auftritt, wenn man den logischen Weg des Werkes in Akzeptanz immer weiter beschreitet. Sie hat weitere Dimensionen, kann über die Bildfläche hinausweisen, primär formal7 oder im metaphorischen Sinne mit dem Gewinn neuer Bildideen für weitere Werke, und neue Ebenen einführen, die Bildtiefe ausloten8.

Beobachten und Durchlöchern

Differenzierung, die Stabilisierung und Vollendung der Form, und Diversifizierung, die Erhöhung der Vielfalt durch Neubeginn, Eröffnungen und Tranfers schaffen eine offene, brüchige, räumlich wirkende Formvielfalt – im einzelnen Werk, über dessen Bildgrenzen hinaus im Werk des Künstlers, und grenzüberschreitend bis hin zur offenen, abenteuerlichen Lebenswelt.

Der Unterschied des Luhmannschen Künstler-Beobachters, dessen fremdbestimmtes Kunstschaffen Grenzen zwischen „fiktionaler und realer Realität“9 einsetzt, um (neben dem gelegentlichen Kreuzen der Seiten) die Möglichkeit zu gewinnen, „die fiktionale Seite der Realität zu markieren und sie mit dem Einsetzen weiterer Formen… auszuarbeiten“10 und dem hiermit gemachten Vorschlag des aufmerksam beobachtenden, sich Zeit nehmenden, zur Lebenwelt sich öffnenden, Künstlers: Sein Beobachten, sein genießendes Arbeiten durchlöchert die Grenze der Zwei-Seiten-Form, um die es eigentlich geht, die eigentlich sein Bild ist, lässt sein Werk das Ganze, das Fiktion und Realität nicht unterscheidet, durchwirken und macht die Offenheit der Lebenswelt sichtbar.

Ausblick in die Natur

Vor allem die im kurzen Vortrag gewonnene Öffnung der Kunst zum Leben muss für den Bezug meines Erfahrungsberichtes zum Co-Thema dieser Diskussion, der Biodiversität einstehen. Kunst verwebt sich mit der Welt. Ich selbst versuche, mit dieser Durchdringung zu arbeiten, indem ich Bildwerke über lange Zeiträume in und mit der Natur erarbeite.11 Dazu vielleicht zu einem späteren Anlass in dieser Diskussionsreihe mehr.

Zum Weiterdenken eignet sich zweitens der Sachverhalt, dass sich ohne direktes Naturvorbild,

ohne den Anspruch von Mimesis im nichtfigurativen Arbeiten immer wieder florale Formen und Strukturen bilden. Gardening in Homs ist ein Beispiel dafür. Auch die für den Vortrag gewählte Begrifflichkeit zur Beschreibung von Kunst wirft einen Enterhaken zur Naturforschung mit ihrem Verständnis von Diversifikation/Diversität für (Entwicklung von, Erhaltung von) Artenvielfalt und Differenzierung für Ausprägung einer Art, eines Organismus. Hier können Gedankenschlachten und Verbrüderungen beginnen.

Aufgrund von Analogien und Gemeinsamkeiten von Kunst und Natur in ihrer Erscheinung und Struktur, aufgrund des Vorteils der Kunst hinsichtlich einer gewissen Reversibilität im Schaffensprozess, ihrem kleinerem Zeitmaßstab und neu-schöpferischen Potential öffnet sich für die existentiellen Fragen nach der Zukunft unserer Lebensbedingungen ein Experimentierfeld Malerei.

Zu einfach? Nur wenn wir Bildkunst wichtig nehmen, können wir Verlorenes schmerzhaft sichtbar machen, den körperlichen und gedanklichen Aufwand eines Ausgleichs erfahren, Leben gewinnen.

 

Altkalen im März und August 2019 Christian Kabuß

Vortrag zum ersten Salon Circipanien Biodiversität und kulturelle Differenzierung am 7. April 2019

 

 

1Siehe Abbildung 0_gardening-in-homs_170x122cm_tafelbild-oel_kabuss2019_1200.jpg

2Siehe Abbildung 1_differenzierungsbereich.jpg

3Luhmann, Niklas: Weltkunst, in: Luhmann, Niklas; Bunsen, Frederick D.; Baecker, Dirk: Unbeobachtbare Welt: über Kunst und Architektur, Bielefeld 1990, S. 11.

4Ebd.

5Siehe die Abbildungen 2_zerstoerungsbereich1.jpg und 2_zerstoerungsbereich2.jpg

6Siehe die Abbildungen 3_diversifizierung1.jpg und 3_diversifizierung2.jpg

7Siehe Abbildungen 4_diversifizierung_bildrand1.jpg und 4_diversifizierung_bildrand2.jpg

8Siehe Abbildungen 5_diversifizierung_bildraum-vorn.jpg und 5_diversifizierung_bildraum-hinten.jpg

9Luhmann, Niklas: Weltkunst, in: Luhmann, Niklas; Bunsen, Frederick D.; Baecker, Dirk: Unbeobachtbare Welt: über Kunst und Architektur, Bielefeld 1990, S. 13.

10Ebd.

11Siehe https://malenimbestandsite.wordpress.com/